2. Platz Selbsthilfepreis der DCIG in 2023:

Gedenk- und Bildungsfahrt nach Weimar

Ein Bericht von Toby Raulien

 

Weimar – weltberühmt für das Wirken Goethe und Schillers, für die damit in Verbindung stehende Weimarer Klassik, für die hochklassigen Hochschulen für Musik und für das Bauhaus.

Geschichtlich auch bedeutsam weil hier die erste verfassungsgebende Nationalversammlung stattfand, aus deren Ergebnis der erste demokratische Staat auf deutschem Boden– die Weimarer Republik hervorging.

Doch ganz in der Nähe der Stadt Weimar fanden vor rund 78 Jahren zahllose Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Nordhang des Ettersberges statt.

Dort errichtete der nationalsozialistische deutsche Staat ab 1937 das Konzentrationslager Buchenwald, das bis zum April 1945 als solches bestand und in dieser Zeit rund 56.000 Leben, bei einer Gesamtzahl von ca. 266.000 Gefangenen, forderte.

Doch warum fährt eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Hörbehinderung zu einem solchen Ort?

In den letzten 10-15 Jahren macht es den Anschein, als würden Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung, Menschenfeindlichkeit, geschichtsrevisionistische Tendenzen und Verschwörungen gegen die Demokratie zunehmen.  Zu sehen auch an den erstarken der Alternative für Deutschland (AfD), an den Morden des NSU, an die rassistisch und antisemitisch motivierten Amokläufe in Hanau und Halle und dem laut diverser Studien leider wieder mehr werdenden Rassismus.

In Bezug auf die Zeit von 1933 – 1945 gibt es viele wichtige wie schreckliche Themen – der zweite Weltkrieg, der Holocaust, Pojramos – der Massenmord an Sinti und Roma, die Unterdrückung derer, die ein freies Leben in einem freien Deutschland wollten und viele mehr.

Ein Thema jedoch taucht jedoch kaum in der Öffentlichkeit auf obwohl es genauso ein schreckliches Kapitel der NS-Diktatur ist wie die bereits genannten:

Den Sozialdarwinismus der nationalsozialistischen Ideologie, in dessen Folge ca. 216.000 Menschen mit geistigen, seelischen und körperlichen Behinderungen und Krankheiten auf staatliche Weisung durch Gas, Spritzen und Vernachlässigung gemordet wurden.

Die Kombination aus all diesen Gründen führte zu der Idee, eine Gedenk- und Bildungsfahrt zum ehemaligen KZ Buchenwald zu veranstalten. Das Ziel war, dahingehend zu sensibilisieren, dass Ausgrenzung und Hass in seiner am weitest gehenden Form auch dazu führen, dass all das, was nicht der angeblichen „Norm“ entspricht, als lebensunwert, als asozial, als Ballast und quasi als unerwünscht gilt und dass es dann nicht unwahrscheinlich ist, dass Taten wie damals wieder passieren werden – auch an Menschen mit Behinderungen.

Nach rund 2 Jahren Planung, Vorbereitungen, Verschiebungen und finanziellen Kalkulationen gab es Mitte Februar 2023 endlich grünes Licht: Die Fahrt wird durch die Aktion Mensch gefördert!

Somit war der finanzielle Rahmen gesichert und es ging mit Elan daran, Werbung für die 4 Tage im April zu machen.

Letztendlich fuhren wir dann mit 15 Teilnehmenden von Dortmund aus morgens über Paderborn nach Weimar. Nach rund 5 Stunden Fahrt und einem kleinem Verfahrer aufgrund des Verwechselns von „Jugendherberge am Ettersberg“ und „Internationale Jugendbegegnungsstätte“ kamen wir an unserer Herberge an, die sich in einer der ehemaligen Häuser für das SS-Lagerpersonal befindet. Nach der langen Fahrt stand erstmal Zimmer beziehen und Kaffee und Kuchen auf dem Plan, um sich für den restlichen Tag etwas zu stärken.

Viel Zeit zum Verschnaufen blieb allerdings nicht, da kurz darauf schon das Programm des Ankunftstages stattfand.

Nach einer Vorstellungsrunde im Seminarraum und kurzen organisatorischen Infos erklärte uns unser motivierter und definitiv sehr kompetenter und sachkundiger Guide (um nicht Führer schreiben zu müssen) Ronald Hirte zunächst grundlegendes über den Komplex und dem sich vor dem eigentlichen Lager befindlichen Gebäuden – Gestapo-Bau, Hundezwinger, Torhaus – und den sogenannten „Caracho“-Weg, auf dem die neu ankommenden Häftlinge vom Lagerbahnhof durch das Tor ins Lager regelrecht gejagt und geprügelt wurden.

In das Lager selbst ging es an diesem Tag noch nicht, da das Abendessen rufte und pünktlich eingenommen werden wollte.

Den Abend verbrachte man dann in gemütlicher Runde, vermischte sich mit den anderen, ruhte sich aus, unterhielt sich und tauschte sich aus – sowohl über die Thematik als über sich selbst.

Der zweite Tag war dann geprägt von der großen Tour über das Gelände.

Zunächst begannen wir in der ehemaligen Häftlingskantine, wo uns Ronald anhand eines Lagerplans nochmal die gesamte Größe des Komplexes am Ettersbergs und auch das ganze System des KZs Buchenwald mit seinen vielen Außenlagern mit Informationen gespickt vor Augen führte. Allein die schiere Größe am Ort war in negativer Hinsicht beeindruckend, auch welch perfide Bürokratie und Planungsmasse dahinter – hinter all denNS-Gräueltaten – steckte.

Von dort ging es über das Gelände zum ehemaligen Kammergebäude, wo die Betreiberstiftung ein Museum mit Exponaten aus dem Lager und der NS-Zeit ausgestellt hat, diese mit Geschichten, Anekdoten und Fakten interessant angereichert hat.

Viele blieben dort länger, um sich zu informieren, einige gingen nach kurzer Zeit zurück zur Herberge – einerseits, weil die bereits jetzt schon große Menge an Informationen körperlich und geistig viel abverlangte, andererseits, weil das Mittagessen wartete und das Wetter zugegebenermaßen nicht auf unserer Seite war.

Überhaupt das Wetter:

Der sehr dichte Nebel, gepaart mit kalten Temperaturen im April, Wind und Regen verstärkte die Stimmung am Ort und hatte etwas…Ja, zusätzlich einschüchterndes, bedrückendes, düsteres.

Nach dem Mittagessen ging es weiter auf dem Gelände. Diesmal stand zunächst der Lagerzaun, dessen Befestigung und der außerhalb des Lagers – aber in Sichtweise der Häftlingr befindliche SS-Zoo im Fokus.

Der Zoo, insbesondere auch das Bärengehege, hatte nicht nur den Zweck des Vergnügens für die SS-Mannschaften, sondern erfüllte auch einen weiteren, sehr perfiden Zweck;

Es kam nicht selten vor, dass Häftlinge „verschwanden“ und niemand wusste, was mit ihnen geschehen ist.

Die Fütterung der Bären mit großen Fleischklumpen in Sichtweite des Zaunes und der dahinter befindlichen Menschen sollte ängstigen, denn Häftlinge nahmen an, dass das Fleisch derer ist, die verschwunden waren…

Einige Meter weiter ging es zu unserer nächsten Station auf dem Rundgang – das Krematorium. Dieser Gang war ein besonders schwerer, denn das Grauen des KZ-Systems wurde hier nochmal sehr deutlich – durch die Pathologie, wo den Toten die Goldzähne heraus gebrochen wurden, gelangen wir über einige Gänge zu den vier Öfen, wo  die SS tausende Leichen ohne Zeugen verbrennen. Die Asche wurde dann in der Umgebung des Lagers verstreut. Der Ofenraum war für viele aus unserer Gruppe besonders belastend – der Geruch, das Wissen um das Geschehene und das beklemmende Gefühl dort zu sein, brachte manchen an die Grenzen seiner mentalen Verfassung, es flossen Tränen und es brauchte Trost und Beistand vom Rest der Gruppe.

Im Leichenkeller des Krematoriums wurden ca. 1.100 Jugendliche, Frauen und Männer an Haken erhängt, die dort befestigt waren. Auch wurde der Vorsitzende der damaligen KPD, Ernst Thälmann, in einer Zwischentür des Krematoriums hinterrücks ermordet.

Wir planten, einen Tag einen Filmabend zu veranstalten, um sich nochmal anders mit dem Thema auseinander setzen zu können.

Dies wurde dann am Abend dieses zweiten Tages gemacht. Auf Kosten von der Jungen Selbsthilfe wurde Pizza bestellt, der Busfahrer spendierte uns Getränke und im uns dafür eigens zur Verfügung Kinosaal schauten wir gemeinsam den Film „Nackt unter Wölfen, der vor Ort  spielte und auch gedreht wurde.

Dieser zweite Tag war mental natürlich sehr anstrengend, sodass man sich nach dem Film in kleinerem Kreis nochmals im Seminarraum traf und Zerstreuung suchte, sich unterhielt, spiele spielte und las.

Am dritten Tag stand die Fahrt nach Weimar an. Diese Fahrt hatte den Sinn, durch den Besuch der altehrwürdigen, schönen Stadt mit seinen Sehenswürdigkeiten etwas den Kopf frei zu bekommen und die Thematik vom KZ wegzubringen.

Doch zuerst führte uns der Weg über die von Häftlingen und noch heute so heißenden „Blutstraße“ hinunter auf die Südseite des Ettersbergs, wo in der DDR ein gigantisches Mahnmal

errichtet wurde. Auf dieser Anlage befanden sich mehrere in Kreisen angelegte Massengräber, die von einem 50m hohen Glockenturm überragt wurden, den wir ebenfalls erklommen.

In Weimar bildeten sich Grüppchen, manche zogen auch alleine los – und trotz schlechtem Wetters wurde Weimar ausführlich erkundet – Die Häuser von Goethe und Schiller, die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, die Altstadt und das Bauhaus-Museum und vieles mehr.

Viel schauen, hören und laufen kostet natürlich Energie, sodass wir dann gegen Abend in Weimar im Restaurant einkehrten und es uns gut gehen ließen. Bei gutem Essen, vielen Gesprächen und einer insgesamt sehr guten Atmosphäre innerhalb der Reisegruppe ließen wir den Tag ausklingen und teil auch Revue passieren, ehe es dann wieder zurück in die herberge ging.

Der letzte Tag am Ort führte uns nach dem Frühstück in das ehemalige Krankenlager des Komplexes. Hier wurde auch nochmal das Thema des Sozialdarwinismus und der Kranken- und Behindertenmorde in der NS-Zeit thematisiert.

Seit 1941 gehörte die Ermordung von Kranken durch Giftspritzen zum Alltag. Im Häftlingskrankenbau fanden auch die Aussonderungen für Transporte in die „Euthanasie“-Tötungsanstalten Sonnenstein und Bernburg statt. Dort wurden nicht mehr arbeitsfähige und jüdische Häftlinge im Gas erstickt. Das heute noch sichtbare parkähnliche Umfeld der Kranken- und Operationsbaracken blieb eine trügerische Idylle.

Dies war auch unser letzter Punkt. Einige mutige sahen sich noch einmal den Leichenkeller im Krematorium an und ließen auf sich wirken, dass dortt tausende Leichen lagen und tausende Menschen ermordet wurde. Einige andere deckten sich mit Büchern im Museumsshop ein und andere brauchten Ruhe. Nach dem Mittagessen wurde dann der Heimweg angetreten und wir verließen Weimar, den Ettersberg und das ehemalige Konzentrationslager mit vielen Gedanken im Gepäck gen Westen.

Frei nach Weimars berühmtesten Bürger – Johann Wolfgang von Goethe – gilt es Ehre dem zu geben, dem Ehre gebührt und so muss an dieser Stelle auch völlig zu Recht unser Busfahrer Thomas Apel in diesem Bericht erwähnt werden.

Er brachte uns nicht nur sicher und stressfrei von A nach B und fuhr auch sicher durch den dichtesten Nebel, wärmte den Bus für uns nasse und kalte Ausflügler vor; er war jederzeit ein Teil unserer Gruppe, fügte sich mit seinem Humor, seinen Anekdoten und seiner Art wunderbar in die Gemeinschaft ein. Auch durch eine großzügige Spende von Getränken aus der nordrhein-westfälischen Heimat gewann er viele Sympathien. Daher hat der CIV NRW schon beschlossen, ihn für eine weitere Fahrt in 2024 gezielt anzufragen.,

Von daher gilt: Ein Hoch auf unser’n Busfahrer!

Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle auch der Aktion Mensch, ohne deren großzügige Unterstützung dieses Projekt nicht realisierbar gewesen wäre und dem Personal der Internationalen Jugendbegegnungsstätte am ehemaligen KZ Buchenwald, die immer freundlich und hilfsbereit waren – sowohl in der Korrespondenz vor der Fahrt als auch persönlich während unseres Aufenthalts.

Was bleibt von dieser Fahrt? Für viele sicherlich für Tage oder gar Wochen noch ein bedrückendes Gefühl. Was Menschen anderen Menschen antun können ist wahrlich grausam. Der Mensch ist dem Menschen bekanntlich ein Wolf. Vieles wurde und wird reflektiert. Aus der Gruppe jedenfalls gab es einen Tenor zu einem entschlossenem „Nie wieder!“ und den Glauben daran, dass man mit mehr Menschlichkeit, sozialem Bewusstsein und Miteinander viel mehr erreichen kann als mit Gewalt, Ausgrenzung und Hass. In der Selbsthilfe, im Umfeld und dann auch in der Gesellschaft.

Hier geht es zum Reflektionsvideo zum Ende der Fahrt UT im Video aktivieren!)

https://www.youtube.com/watch?v=ZGvzCl_GCkQ&t=628s

 

 

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